Paxx Reloaded

Wieder da: Sex-, Drugs-, Peace- and Rock'n'Roll Libertarians

Wieso eigentlich Integration?

with one comment

von Niklas Fröhlich

Eigentlich wollte ich mich zu der gesamten Sarrazin-Debatte nicht noch einmal äußern, aber da das Thema auf allen Plattformen, in allen Medien und Gesprächen nicht abreißen will, möchte ich mich doch zumindest zu einem einzigen Aspekt noch einmal äußern: Der Kultur, was besonders auch die Sprache mit einbezieht. Vorweg: Wann immer ich das Wort „Gesellschaft“ verwende, spreche ich nicht von jenem sinnentleerten Konstrukt, sondern meine einzig und allein „Das Zusammenleben der Menschen“.

In der ganzen Debatte hört man von Seiten der Einwanderungs- Islamkritiker immer wieder das Argument der grauenhaften Parallelgesellschaften, der zusammenbrechenden kulturellen Einheit in Deutschland, dem Ende der „Leitkultur“. Phrasen wie „Wer in Deutschland lebt, muss auch Deutsch sprechen!“ oder der Ruf nach Verankerung der Deutschen Sprache im Grundgesetz sprechen Bände – Bände unreflektierter Gedankengänge.

Ich provoziere: Warum MUSS Deutsch sprechen, wer in Deutschland lebt? Es ist doch Sache eines jeden Einzelnen, wie er sein Leben verbringt – und wer die deutsche Sprache nicht lernen will, der muss dies nicht. Wenn ich auswandere MUSS ich auch nicht unbedingt die Sprache meines neuen Wohnortes lernen. Von MÜSSEN als imperativ anderer kann überhaupt keine Rede sein. Was geht es mich an, wie andere ihr Leben führen? Gerade diese Toleranz sollte doch der Grundstein unserer sogenannten „modernen“ und „freiheitlichen“ Gesellschaft sein.
Aber, wird so Mancher einrufen, die kulturelle und besonders sprachliche Einheit sei unbedingt notwendig zum Bestehen der „Gesellschaft“. Ich kann ja meinen Nachbarn nicht einmal bitten, leise zu sein, geschweige denn mich ihm vorstellen und wirklich eine Gesell-schaft mit ihm bilden, wenn er meine Sprache nicht spricht. In diesem Sinne, so mag man einwenden, gehe es einen sehr wohl etwas an – denn man möchte ja ein funkionierendes Zusammenleben.
Diese Feststellung ist im Kern tatsächlich richtig, führt in diesem Fall jedoch zur falschen Schlussfolgerung. Natürlich ist es wünschenswert, mit seinen Mitmenschen kommunizieren zu können. Aber wünschenswert ist so vieles. Ich wünsche mir auch noch so einiges anderes etwa einen neuen Rechner – dennoch habe ich keinen Anspruch gegenüber Anderen, dass diese ihn mir schenken, damit ich davon profitiere. Ebensowenig habe ich einen Anspruch darauf, dass andere Menschen für mich eine Sprache lernen, damit ich davon profitiere. So empört der Kulturkonservative bei dieser Aussage auch aufschreien mag: Ich habe ebensowenig einen Anspruch darauf, dass ein eingewanderter Türke deutsch lernt, wie ich Anspruch darauf habe, dass alle Türken Deutsch lernen, sobald ich in die Türkei einwandere. Ich habe überhaupt keinen Anspruch auf die Handlungen anderer.

Aber, wird man wiederholen, was ist mit der Notwendigkeit einer gewissen sprachlichen und kulturellen Homogenität? Ganz einfach: Sie ist wünschenswert und sie ist notwendig und eben daher braucht überhaupt niemand irgendwelche Ansprüche zu erheben. Der Mensch möchte ein gutes und angenehmes Leben führen und gerade dafür braucht er die Gesellschaft und dafür braucht er die Sprache. Sprache und Kultur sind doch nicht Selbstzweck! Sie sind reines Mittel zum Ziel individueller Zielerreichung. Oder in schöneren Worten:

„Der in die Gesellschaft eingegliederte Mensch ist an die Gesellschaft gebunden, weil er ohne die Gesellschaft die Zwecke seines Handelns nicht verwirklichen kann.“
– Ludwig von Mises; Nationalölkonomie; Edition Union Genf; 1940; S.135 *

Ein Einwanderer lernt schon deshalb die Sprache der Einwanderungsgesellschaft, weil er ohne sie in ihr nicht leben kann. Aus eben diesem Grund ist eine weiträumige zumindest annährend homogene Kultur und Sprache ja überhaupt erst entstanden, weil die Menschen Nutzen aus der Zusammenarbeit ziehen. Es ist doch innerhalb Deutschlands nicht anders: Der Urbayer spricht nicht deshalb nebenbei auch mehr oder weniger Hochdeutsch, weil es „sich in Deutschland halt so gehört“, sondern damit er auch mit dem benachbarten Badener oder Franken kommunizieren und Handel treiben kann. Und so werden gewiss, überall dort, wo Menschen zusammenkommen, gewisse gemeinsame Nenner und eine gemeinsame Sprache entstehen – schon deshalb, weil jeder Einzelne dies als Mittel der Zusammenarbeit braucht.

Um noch einmal auf den Urbayern zurückzukommen: Es mag auch gewiss einige ländliche Dörfer geben, in denen etwa der Westfale kein Wort verstehen wird – und in denen man auch des Hochdeutschen kaum mächtig ist und deren Kultur auch ländlich, altmodisch, streng katholisch ist. Wer beklagt sich eigentlich über diese „Parallelgesellschaften“ und „Integrationsverweigerer“. Niemand. Wieso auch? Diese Dörfer sind eben deshalb nicht an Restdeutschland angepasst, weil sie es scheinbar nicht brauchen, weil keine Notwendigkeit besteht. Und so nimmt auch niemand Anstoß daran: Wen kümmert es, was irgendwo auf dem Land vor sich geht? An dem Punkt aber, wo diese Dörfer mehr zu Städten oder touristischen Gebieten werden, kurzum: In Kontakt mit „Hochdeutschlern“ kommen, werden sie sich nach und nach erst sprachlich und irgendwann auch in gewissen Teilen kulturell anpassen – einfach, weil man mit den anderen zugezogenen Städtern oder den geldgebenden Touristen kommunizieren muss. Andersherum: Wer als einzelner in das Dorf zieht, wird nicht umherkommen bayrischen Dialekt zu lernen.
Von einem Imperativ der „Anpassungspflicht“ kann keine Rede sein. Es geht um reine Notwendigkeit.

Diese geographische Abgeschiedenheit, die kulturelle Anpassung nicht oder nur bedingt nötig macht, ist aber in den beklagten türkisch-arabisch-islamischen Parallelgesellschaften gerade nicht gegeben. Und daher wird sie problematisch: Denn innerhalb direkter Nachbarschaft findet die rein natürlich übliche und auch notwendige kulturelle Angleichung nicht statt – und das belastet natürlich das Zusammenleben.

Und nun sind wir beim Kern des eigentlichen Problems: Wieso funktioniert hier das nicht, das rein natürlich ist: Die Anpassung zum gegenseitigen Nutzen. Wieso bilden sich kulturell abgeschottete Gesellschaften innerhalb der Restgesellschaft, die mit dieser kulturell wie sprachlich nicht kommunizieren können? Dies hat wenn überhaupt zweitrangig irgendetwas mit Nationalität oder Religion (hier: Islam) zu tun. Denn selbst der radikale Religiöse oder der anpassungsunwillige Nationalist muss essen, muss eine Wohnung haben, muss Geld verdienen usw. Und für all das muss er kommunizieren. Selbst der radikalste türk-nationalistische Islamist würde die Deutsche Sprache lernen müssen, um sich eine Wohnung zu suchen, den Mietvertrag zu verstehen, einen Job zu finden, sich beim Einstellungsgespräch vorzustellen, oder einfach nur beim Bäcker Brötchen zu kaufen. Integration MUSS geschehen, aber nicht als moralischer Fingerzeig, sondern sie wird es einfach aus reiner und natürlicher Notwendigkeit.

Wieso aber funktionieren bzw. funktionierten diese natürlichen Anreize und Entwicklungen nicht? Die Antwort ist denkbar einfach: Der Staat hat natürliche gesellschaftliche Mechanismen manipuliert und/oder zerstört. Es begann alles mit politisch geschlossenen Gastarbeiter-Abkommen. Während einzelne Einwanderer inmitten deutscher Restgesellschaft landen und sich bald anpassen würden, holte man Einwanderer hier gesammelt nach Deutschland und hielt sie auch weiter versammelt, in ihren Wohnblöcken, an ihren Arbeitsplätzen, später in ihren Vierteln. Wohnung und Arbeit wurden (staatlich gestützt) zugeteilt. Kein Lernen der deutschen Sprache nötig. Arbeiter wurden oft gemeinsam in den Betrieben eingesetzt. Kein Lernen der deutschen Sprache nötig. Arbeiter wurden gemeinsam angesiedelt. Kein Lernen der deutschen Sprache nötig.
Aber dies allein ist nur der erste Teil des Problems. Denn irgendwann liefen die Verträge der Gastarbeiter-regelungen aus und die – von der deutschen Restgesellschaft nahezu gezielt isolierten – Ausländer hätten sich nun definitiv zur Berufsfindung und allgemeinen weiteren Zukunft mehr und mehr an die Restgesellschaft angleichen müssen. Wieso aber taten es sie es nicht? Und wieder liegt die Antwort beim Staat: Ohne das staatliche Dokument der Staatsbürgerschaft ist es schwierig einen Beruf, ganz zu schweigen von längerfristiger Ausbildung, in Deutschland zu finden. Absolut verständlicherweise nimmt kein Lehrmeister einen Gesellen auf, der – egal wie bemüht er ist – schlecht Deutsch spricht und vor allem eventuell bald sogar abgeschoben wird. Wieder blieb man unter sich, die „Parallelgesellschaft“ wurde gefestigt.
Zementiert wurde sie dann letztendlich wieder durch den Staat. Trotz aller staatlicher Hürden hätte die reine Existenznot schließlich doch irgendwie zu – wenn auch schlecht bezahlter, niederer – Arbeit und somit Integration geführt. Doch diese Existenznot als letzter Integrationsfaktor wurde dann durch die staatliche Sozialhilfe beseitigt. Man brauchte sich einmal mit Dolmetscher oder auch gleich mit türkischen Anträgen, ich weiß nicht wie es da steht,  mit der deutschen Bürokratie herumschlagen und konnte dann wieder zurück ins parallelgesellschaftliche Viertel, ohne weiteren Kontakt zur deutschen Kultur.

Wir sehen: Der Staat legte den Grundstein der Parallelgesellschaft, der Staat festigte das Gebilde und zementierte es schließlich. In sofern stimmt es, dass die Politik gescheitert ist – allerdings nicht, weil sie nicht genug tat, sondern eben weil sie etwas tat und die Menschen lange und erfolgreich davon abhielt sich ganz natürlich zu integrieren. Ohne Politik, wäre nichts davon geschehen. Heute nach „besserer Integrationspolitik“ zu rufen ist daher lachhaft, schon deshalb, weil eine gewisse grundlegende gesellschaftliche Homogenität eben nicht erst durch Politik hervorgerufen wird, sondern ganz von selbst entsteht, aus dem tiefen Bedürfnis der Individuen heraus. Politik kann diese Vorgänge nur blockieren und lahmlegen.

Und nun wenden wir uns den indirekten Folgen dieser politischen Zerstörung des natürlichen Zusammenlebens zu: Die politisch forcierte Sammel-Einwanderung gekoppelt mit gezielter Abschottung führte natürlich auf deutscher Seite zu Vorurteilen gegenüber den Andersartigen und bei den Türken ihrerseits eine stärkere Selbstfindung in der türkischen Kultur und Gemeinschaft – und eben der Religion. Es darf nicht wundern, dass die Abgeschotteten ihrerseits mit Abschottung reagieren. All dies verstärkt die gesellschaftliche Spaltung nur noch mehr. Die Probleme plötzlich auftretenden Nationalismus oder Islamismus oder weniger spezifisch: „Integrationsverweigerung“ sind somit eben nicht Ursachen, sondern Folgen, reine Symptome (!) von Abschottung und verstärkter Bildung von Parallelgesellschaften.
Vermischt wird dies oft auch mit der Problematik der Unterschicht, in welche die Einwanderer von Anfang an (s.o.) gedrängt waren. Pöbelt ein deutscher Prolet einen Deutschen an, nimmt dies kaum jemand wahr, tut dies ein türkischer Prolet wird der Kulturkampf ausgerufen. Das entschuldigt nichts, muss aber berücksichtigt werden. Ebenso muss das Treiben der, auch in der aktuellen Debatte immer wieder kritisierten, Multikulti-Sozialromantiker beachtet werden, welche (oft mit Staatsgeldern) die geschaffenen Konstrukte noch verherrlichten und in ihrer Festigung bestärkten und noch viel anderes verdient hier Beachtung. Darauf möchte ich aber eigentlich gar nicht eingehen. Dieser Beitrag sollte ausschließlich der Betrachtung von Entwicklung und Bedeutung von Kultur und Sprache dienen.

Denn dies geht in der aktuellen Debatte allerdings fast völlig verloren, man beklagt Symptome, spricht von „Bringpflicht der Migranten“, von „Leitkultur“, von „besserer Integrationspolitik“ und verkennt, dass all dies schon allein aus einem einzigen Grund Unsinn ist: Gesellschaft und ihre Normen bzw. eine grundlegende Homogenität sind keine Pflicht, sondern sie entstehen aus gegenseitigem Nutzen, ganz von selbst – wenn man sie nicht behindert. Die heutigen Probleme sind primär Folgen staatlicher Zerstörung des Zusammenlebens und können auch nur auf Basis dieser Erkenntnis kuriert werden. Erst wenn dieses Allgemeine einmal klar ist, kann man versuchen über spezifische Lösungen nachzudenken.

* Das gesamte Kapitel zur Gesellschaft, ihrer Bildung, ihrem Zweck und ihren Ausprägungen ist, nicht nur, aber auch gerade, zu dieser Thematik ungemein lesenswert.

 

Auch dieser Klassiker, aus Sicht der Paxx-Redaktion vermutlich das Beste und Klügste, was seit langem zum Dauerbrenner „Integrationsdebatte“ verfaßt wurde, erschien ursprünglich auf mea sponte.

Written by dominikhennig

1. Dezember 2010 um 01:22

Eine Antwort

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  1. Ohne Übertreibung: Das Teil ist genial! 🙂

    lydia4krasnic

    2. Dezember 2010 at 04:07


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